Teil III – Das Gespräch

New Jersey. Während wir alte Fotografien anschauen, spreche ich mit dem Schwager meines Großvaters. Unvermittelt erzählt er zum ersten Mal, dass einer der Brüders meines Großvaters bei der Waffen-SS war. Er erinnert erstaunliche Details. Ich habe dieses Gespräch mitgefilmt.

algivideo

Neutrale Zone/Das Gespräch, 2007, video projection, 6 min., mini-DV

 

März 2006, Gespräch mit Algi (Opas Schwager).

Algi(rdas), wurde von den deutschen Behörden wegen seiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bei der Umsiedlung 1941 nicht als „Volksdeutscher“ anerkannt. Seine Ehe mit Irmgard (Opas Schwester) wurde als „Mischehe“ (dt.-litauisch) eingestuft und das Paar, wie dann üblich, als „nicht befähigt bei der Germanisierung Polens mitzuwirken“, nach kurzem Aufenthalt in einem Umsiedlungslager im“Warthegau“ ins „Altreich“ gesiedelt.

Dort in Wolfenbüttel traf sich am Ende des Krieges die gesamte Familie: meine Urgroßeltern, mein Großvater mit meiner Großmutter und den beiden überlebenden Kindern und alle Brüder meines Großvaters.

Von Wolfenbüttel aus emigrierten Algi und Irmgard 1951 mit ihren zwei Kindern in die USA. Ende der fünfziger Jahre folgte Edmund, Opas jüngster Bruder, damals Ende 40.

Der Kontakt zwischen den Geschwistern blieb erhalten. Sie beobachteten aufmerksam den Werdegang der anderen und besuchten sich gegenseitig. Besonders die Besuche von Edmund („Emo“, gestorben 1994), meinem „Großonkel aus Amerika“ sind mir in Erinnerung: voller Stolz lief ich neben ihm durch die Fußgängerzone unserer niedersächsischen Kleinstadt.

Auf einer Reise besuchte ich Algi 2006 in New Jersey. Er war meine letzte Chance, um von einem Zeitzeugen, der auch aus Kaunas stammt, sowohl genaueres über das Leben meiner Familie dort, vor der Umsiedlung zu erfahren, als auch, was genau in den Jahren nach 1941 geschah. Die noch lebenden Verwandten in Deutschland schweigen — und ich traue mich nicht, jenseits ihres behaupteten Nichts-Wissens (und wider meines besseres Wissens) weiter zu bohren. Wir saßen im Wohnzimmer von Algis Tochter und schauten alte Fotos an, die Raimund, Algis Sohn, mit ihm gemeinsam ausgesucht hatte.

Völlig unerwartet und zum ersten Mal überhaupt erzählt Algi, dass Emo bei der „SS“ war.

 

Transkript des Gespräches:
Algi: „ah, das war nach dem Kriege … denn Emo war doch nicht, Emo war eingezogen“
ich: „ja“
Algi: „Emo war bei, im, in Oranienburg, bei Berlin, bei SS“
ich: „aha“
Algi: „war da, ähhh“
ich: „in Sachsenhausen, in dem Lager?“
Algi: „er war auch Wachposten“
ich: „Wachposten?“
Algi: „Ja“
ich: „in Oranienburg?“
Algi: „Ja“
ich: „Im Lager?“
Algi: „Ja“
ich: „echt?“
Algi: „ja und wie die Russen kamen, er hat, er ist mit einem Andern, die sind weg gerannt“
ich: „weggelaufen“
Algi: „ja“
ich: „ach, du großer Gott, dass“
Algi: „da kam er dann nach Wolfenbüttel“
ich: „wirklich? Der war wirklich, der war in Sachsenhausen? Ach, du Scheiße“
Algi: „wir waren in Wolfenbüttel, die Eltern kamen, von Milau schon, wo die Russen kamen“
ich: „mmm, alle kamen“
Algi: „und dann Reinholds Frau und Kinder kamen und Reinhold kam, wurde von Frankreich doch freigelassen, da, als Kriegsgefangener“
ich: „genau“
Algi: „dann der, der XX und Frau“
ich: „ja, und wo kam XX her? Aus Kaunas, oder“
Algi: „Ich weiß nicht – er war als Übersetzer auch in solche militärische Ge… Intelligence oder so“
Raymund: „wie sagt man – Dolmetscher?“
ich: „in wo?“
Algi: „Intelligence“
ich: „ach so, so Geheim…“
Algi: „so, wenn die Gefangene wurden genommen, XX wurde geholt in der russischen Sprache“
ich: „und dann haben sie die befragt“
Algi: „ja, wenn Russische wurden, gefangen, dass er die hat interrogiert“
ich: „mmm“
Algi: „weil er russisch konnte“
ich: „hm, genau“
Algi: „und Oskar, der war in Leningrad dort an der Front, auch als Interpreter, praktisch“
ich: “ aha, aha – die haben bestimmt viel gehört und viel gesehen, oder? Also, wenn sie da die Leute verhört haben“ (ziehe Grimasse) „mmmm?“
Algi: „ja“
Raymund: „ja, aber das war tough brake da, dass sie schicken an die Ostfront“
ich: „ja, ja klar“
Algi: „ah, das Foto hier ist in Litauen noch, hier ist noch, ich weiß, Mama ist da, die Irmgard ist da irgendwo hier“
ich: „Oh, ja , hier ist mein Opa, oh, das ist schön – hier meine Oma…“

Schnitt

ich: „Ist das Emo hier?“
Raymund: „Emo“
ich: „ja. Warum ist der zur Waffen, äh Totenkopf-SS gegangen? War er so ein überzeugter Nazi?“
Algi: „er wurde eingezogen schon im Lager Rogy, praktisch, wurde er eingezogen.“
ich: „mmm, ach da wurde er eingezogen, mmm, … meinst du nicht, er konnte, konnte er eine Entscheidung treffen, wo er hin will?“
Raymund: „vielleicht war es so wie ich war, als ich beim Militär war, die sagen du musst haben, non-combat kannst du haben und combat related musste ich haben, na ja, da hab ich gewählt und bin gekommen“
Wendet sich neuem Foto zu.
An Algi gewandt:
ich: „oder meinst du, dass er so ein überzeugter Nazi war? Kannst Dir das vorstellen? Nee – oder? Ich weiß nicht“
Algi: „na“
Raymund: „ich persönlich kann nicht glauben, dass er“
ich: „jemand, den man kennt, dass der so was gemacht hat, oder?“
Raymund: „das er so was wird, Äh, dass er denkt er wird, weißt du, was schlechtes machen“
ich: „mmm, ja, aber, sie haben’s getan. Irgendwer war’s, irgendwer muss es ja gemacht haben“

Schnitt

ich: „aber Onkel Emo hat ein Visum bekommen für die USA, wenn er bei der SS war – wie hat das funktioniert? Haben die nicht geprüft? Was sie gemacht haben? Hat die US-administration nicht geprüft, welche Deutschen…?“
Algi: „er ist ausgewandert nach Amerika, natürlich er hat das nicht angegeben auf seinen Papieren, das ist ganz klar und hier hat niemand ihn gefragt, also niemand gegen ihn was gesagt, oder so“
ich: „mmm, mmm“
Algi: „nur, wenn er war wie man sagt, eingezogen — nicht in Waffen-SS, er war diese Totenkopf-SS, das waren die, die als Wachposten waren, in solche“
ich: „Lager“
Algi: „Konzentrationslager und so. Aber er hatte nicht diese Blutgruppe tätowiert – das wär schon – da kannst du nicht sagen- ich bin nicht gewesen“
ich: „stimmt, dann hätt’ er keine Chance gehabt, aha“
Wende mich neuem Foto zu.

Schnitt

ich: „Hat denn Emo mal was davon erzählt, was er da erlebt hat in Oranienburg, oder hat er nichts gesagt – Emo, hat er was erzählt?“
Algi: (hebt die Arme hoch) „In Oranienburg waren die Kasernen für diese Totenkopf-SS, und der Lager, der war, ich weiß nicht, war er auch in Oranienburg oder weiter…“
ich: „ja, am Rand von Oranienburg“
Algi: „Die wurden gebracht, er musste einfach … aufpassen.“
ich: „mmm“
Algi: „ja, er hat gesagt, dass die andere, die da, sogenannte, die haben gesagt, du wirst auch hier gefangen genommen (lacht ein bisschen), du bist nicht auf eine Seite von Zaun, du bist auf andere Seite“
ich: nicke verständnisvoll, schaue weiter intensiv durch Fotos, Raymund auch

Schnitt

ich: „ah, emigration! Ah, so who gets going? Wer ist das Ð Emo? Aber das ist später“
Raymund: „Der Emo kam mit einem Schiff, so…“
Algi: „Das ist Emo“
ich: „Ja? Wann ist der gekommen nach Amerika? Welches Jahr“
Raymund: „Ich weiß nicht, welches Jahr, aber es war irgendwo in die, what – end of 58 or something?
ich: „Ah, so spät?“
Raymund: „Ja“

Ich wende mich neuen Fotos zu. Ich habe dann keine Fragen mehr zu Emo gestellt und auch keine Angaben mehr zu ihm bekommen.