wir sind hier – wir werden hier gewesen sein

Was macht einen Ort zu einer Erinnerung? Wie wird ein Ort mit Emotionen aufgeladen? Welche Erinnerungen birgt ein Ort? Und welche Erinnerungen werden auf ihm geschaffen?

1. Preis und Realisierungsempfehlung der Jury, Kunst am Bau Wettbewerb, 49. Grundschule Rennbahnstraße Berlin-Weißensee

 

Entwurfs Darstellung pdf

 

Finding one’s place
„wir sind hier – wir werden hier gewesen sein“

 

[Erläuterungstext]

Vorgeschlagen wird eine zweiteilige Arbeit:
– eine Skulptur auf dem Vorhof des Schulgeländes
– eine Wandarbeit an der Straßenfassade der Sporthalle

In der Auslobung wird das topografische Umfeld der Schule als „Lost Space“ beschrieben. Das Gelände wurde von Erd- und Gesteinsmassen und Wasser geformt, beherbergte Sümpfe, Steppen, Wälder, Wiesen, Felder, eine Trabrennbahn, Zwangsarbeiter-Baracken der Trumpf-Schokoladenfabrik, eine Radrennbahn, die berühmt wurde als Arena für Konzerte (deren Echo und Nachhall eine Generation prägte), Sportanlagen, Gewerbe, Kleingärten, Mehr- und Einfamilienhäuser.

Was macht einen Ort zu einer Erinnerung?
Wie wird ein Ort mit Emotionen aufgeladen? Welche Erinnerungen birgt ein Ort? Und welche Erinnerungen werden auf ihm geschaffen?

Das sind für Grundschulkinder aller Wahrscheinlichkeit nach einfach keine interessanten Fragen – Kinder befinden sich im unmittelbaren Erleben – sie befinden sich mehr in der Gegenwart als wir Erwachsene es vermögen. Spätestens in der Schule werden Kinder jedoch mit abstrakten und gesellschaftlich determinierten Erfahrungen in Berührung gebracht: mit Benennungen, Kategorisierungen, Bemaßungen, Definitionen und Differenzierungen.
Und parallel entwickelt sich um das 10. Lebensjahr herum eine vielschichtige und nun bewusste Selbstwahrnehmung der Kinder. Sie sehen sich zunehmend durch die Augen von anderen, beginnen sich in Relation (auch zu
Vergangenem) zu setzen, reflektieren, vergleichen sich usw.

In diesem Spannungsfeld agiert der Entwurf „wir sind hier – wir werden hier gewesen sein“:
Mit dem Teil der Arbeit „wir sind hier“ schaffe ich einen Ort, eine Setzung, die mit ihrer bloßen Physis beeindruckt. Ein Stein in Form eines flachen Kiesels, als sei dieser durch Millionen Jahre im Wasser fein geschliffen worden. Er liegt einfach da – auf dem Vorhof des Schulgebäudes. In unserer Gegenwart.
Es handelt sich um einen bearbeiteten Natursteinfindling, einen Granit/ Gneis; Hartgestein. Er ist einerseits Manifestation von (erdgeschichtlicher) Zeit und zugleich mit seiner Masse und seiner Präsenz eben genau jetzt hier. Ein Ort, und ein Objekt, das man (mühelos) erklettern, auf das man sich setzen oder auch legen kann. Ein sinnliches Erleben von einem Material, dessen farbige und ggf. kristalline Struktur und Farben durch den feinen Schliff sichtbar werden, dessen weiche, haptische Oberfläche sich in der Sonne erwärmt und im Winter kalt wird. Ein Treffpunkt, ein Sammelplatz fürs Hier und Jetzt. Wie die Kinder ist er jetzt hier. Er war vorher woanders, er sah auch anders aus. Jetzt ist er wie ein weicher und doch ganz fester Begleiter dieses Ortes.
Er wird zu einem Ort im und zum Teil des Eingangsbereichs des Schulgebäudes.

„wir sind hier“, also die Manifestation der Gegenwart, des Hier und Jetzt wird in leicht vertiefter (ca. 0,5cm) Schriftviertelkreislettern auf der Steinoberseite mit ca. 4cm Schrifthöhe dezent eingearbeitet.

Von der Straße aus wird der auf (dem bauseitig fenster- und ornamentlos gestalteten Teil) der Sporthallen-Fassade aufgetragene Satz „wir werden hier gewesen sein“ sichtbar sein. Er verweist auf die Zukunft und zugleich auf unsere Gegenwart, die (später) vergangen sein wird.
Indikativ Futur II ist eine der Zeitformen, die auch den Kindern während ihrer Schulzeit vermittelt wird. Ihre machtvolle und auch poetische Implikation ist ihr auf den ersten Blick gar nicht anzusehen. Zeit wird durch die sprachliche Ermächtigung erfahr- und relativierbar. Sie setzt sich in Relation zum eigenen Empfinden, der eigenen Erinnerung und genauso zu messbaren physikalischen Parametern.
Für die vorbeifahrenden Autofahrer*innen, die im Bus Sitzenden, an der Haltestelle Wartenden, vorbei radelnden oder laufenden Passanten, die außerhalb der Schule stehen, mag dieser Satz an die eigene Kindheit erinnern. „wir werden hier gewesen sein“ hat einen leichtfüßig ironischen, lakonischen, wie auch einen tiefgehenden, an die eigene Vergänglichkeit erinnernden Klang. So eröffnet er einen sehr freien Assoziationsraum auf das Schulgebäude als auch auf das eigene Leben und die Zeit in dieser Welt hin. Angedeutet wird damit ebenso der Bezug auf unser aller Verantwortung für diese Welt/unsere Umwelt.

Die Schriftform nimmt dafür die farbige Ornamentik der Fassade(n) auf. Die eigens entwickelte Schrift leitet die Lettern aus der geometrischen Grundform des Viertelkreises ab und zitiert so die Viertelkreisformen des Fassadenornaments. Es wird der gleiche Lack in der gleichen Farbe verwendet, mit dem die Ornamente gefasst sind. Die Viertelkreise treten als Elemente aus der Ornamentik heraus und werden lesbar – zu Schrift. Es entsteht hier eine visuelle Kopplung zum Prozess des Lesen Lernens (dass man*frau sich als einmal lesen könnend kaum mehr vorstellen kann) – die Verwandlung von Formen in Zeichen, von Zeichen in Laute und dann in Worte.
Für die Kinder ist zumal zu Beginn ihrer Schullaufbahn an der Grundschule Rennbahnstraße der Stein zunächst nur als Präsenz erfahrbar. Sie werden hierherkommen, sie sind hier, sie werden hier sein und sie werden hier gewesen sein. Wie alle anderen, die diesen Ort nur passieren und passiert haben.

„wir sind hier – wir werden hier gewesen sein“ schreibt sich leicht und zugleich durchaus massiv als Erfahrung und zukünftige Erinnerung aller in die Geschichte des Ortes ein, wie alles und alle vor und nach ihnen.