Machorka

Arbeit für die Ausstellung poliflur 0101 in einem verlassenen Gewächshaus. Die dort wuchernden Tabakpflanzen stammten von einem ausgelaufenen EU-Förderprojekt zur Kultivierung von Tabakanbau. Machorka ist ein nicht mehr gebräuchlicher negativer Ausdruck für (russischen) Tabak, der in meiner Familie geläufig war.

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Machorka, 2007, Poster mit Hinweis auf MP3-Player, Hörstück, 6 min.

 

Ausstellung poliflur0101 in einem Gewächshaus in Berlin-Lichtenberg September bis November 2007, kuratiert von Anke Westermann

In dem Gewächshaus war Tabakanbau betrieben worden. Überall auf dem Gelände und in dem Gewächshaus selbst wuchsen unkontrolliert Tabakpflanzen. Mein Großvater hatte immer geraucht und ich erinnerte mich an den Ausdruck „Machorka“, der in unserer Familie für schlechten und stinkigen Tabak stand, so wir er nach dem Krieg in Polen wie auch in Deutschland illegal an Bahndämmen und in Kleingärten angebaut wurde.
Als ich mit der Recherche nach der Herkunft des Wortes Marchorka [russische Tabaksorte aus dem wilden Tabak Nicotiana rustica] begann, war ich darüber verwundert, daß in meinem Bekanntenkreis niemand das Wort kannte.

Dann fand ich die Webseite von Dieter Schönefeld, der eine Liedsammlung eingestellt hat, in der sich auch ein Lied „Machorka“ befindet. Von Schönefeld erfuhr ich eine sehr bewegende Geschichte aus der Zeit des Kalten Krieges, die ich in einem Hörstück mit Gesang von Dieter Schönefeld und Musik von Nicolas Liucci-Goutnikov festgehalten habe.

 

Transkript (Ausschnitt) aus Hörstück „Machorka“:

… Schönefeld selbst hat in Dresden von 1963 – 1969 Informationstechnik studiert. Im Praktikum-Herbstsemester 1967/68 war er mit Kommilitonen in Ostberlin. Während dieser Zeit lernten sie paar Westberliner FU-Studenten kennen, mit denen sie sich meist „leicht konspirativ“ getroffen hätten. In dieser Zeit modifizierten sie das schon seit einiger Zeit in Dresden gesungene Machorka-Lied zur aktuellen Fassung.

(Schönefeld singt)

Die ursprüngliche Fassung des Liedes, die Schönefeld und ich in unserem Schriftverkehr „Dresdener Fassung“ nannten, lautet auf den Refrain: „Machorka her, Machorka her, sonst halten wir die Norm nicht mehr“ und besingt Versorgungsnotstände, die einen Hunde am Spieß braten lässt. Auch Bruderländer wie Polen, Slowakei, und Uruguay werden besungen, wo der Schrei nach Machorka ertöne und zwar ebenfalls aus Not heraus und in Ermangelung besseren Tabaks…

(Schönefeld singt:)

1.
Der Machorka ist ein Tabak, der in Russland angebaut
Und so rauchen wir Machorka, dieses gottverdammte Kraut.
Ref./: Machorka her, Machorka her, sonst halten wir die Norm nicht mehr, :/

2.
Der Machorka ist ein Tabak, der so mild ist und so gut,
den Machorka raucht ein jeder, weil er jedem Freude tut.

3.
Man liest die Prawda, isst den Speck und der Wodka macht die Rund,
in dem wilden Lagerfeuer brät ein abgestochner Hund.

4.
Bin gewesen schon in Rumänien, war in Polen und der Slowakei,
überall gibt’s arme Menschen, überall hšrt man Geschrei.

5.
And’re Menschen war’n in Spanien, war’n in Afrika und Uruguay,
ja auch dort gibt’s arme Menschen, dort hört man überall den Schrei.

6.
Wir rauchen Dubek, wir rauchen Carmen. Wir rauchen Turf und Erster Mai;
Auch bei uns gibt’s arme Menschen, auch bei uns ertönt der Schrei:

Durch die 68er Studenten-Unruhen, den Einmarsch der Russen nach Prag und den vereitelten Fluchtversuches eines Kommilitonen im Freundeskreis hätten Schönefeld und seine Runde jedoch nur noch selten gesungen.
Dann seien auch noch die Kontakte nach Westberlin durch einen Beitrag im SFB (also West-Berliner Radio) über die Stimmung der studentischen Jugend in der DDR, die eine Bekannte aus ihrem Kreis verfasste, für alle gefährlich geworden.
Da Schönefeld und seine Kommilitonen jedoch den Briefkontakt mit zweien aus der Westberliner-Gruppe weiter geführt hätten, wurde die Stasi aktiv.
So seien harmlose Bürger nach und nach zu „Staatsfeinden“ geworden – im Februar 1984 schließlich wurde ihnen die DDR-Staatsbürgerschaft „aberkannt“ und man hat Schönefeld und seine Familie nach Westen abgeschoben.
Nach der Wende wurden und werden die alten Lieder mit großer Freude, so Schönefeld, bei allen Treffen mit den anderen Alumni aus Dresden gemeinsam gesungen.

In vielen Kabaretttexten, so führte er auf weitere Nachfragen aus, Theaterstücken und Filmen sei damals versucht worden, die DDR auch kritisch zu sehen und darzustellen.
Selbst von straffen Parteigenossen wurde über diesen Weg erhofft, dieses Staatskonstrukt zu „verbessern“.
Alle Normalbürger hätten sich mit Liedern Luft gemacht – da wurde auch „aktualisiert“ (Schönefeld kann sich erinnern, dass nach dem Einmarsch der Russen in Afghanistan der Refrain von „Berlin nicht mehr“ zu „Kabul nicht mehr“ geändert wurde.
Das eisige Klima zu Anfang der 50er Jahre sei nach Chruschtschow auch einer aufmüpfigeren Stimmung gewichen, die in den 60ern und 70ern – besonders nach den KSZE-Verträgen – auch lautere Proteste brachte (siehe Biermann-Ausbürgerung und Folgen).
Zu Stalins Zeiten habe allerdings keiner einen Mucks oder Lied gewagt, damals wurden selbst straffe Kommunisten von der Straße geholt.

Ich merke, dass immer noch kaum begriffen habe, was die Teilung Deutschlands eigentlich bedeutet hat.

 

machorka

Machorka, 2007, Installationsansicht Ausstellung poliflur 0101, Foto: www.poliflur.de